November 3, 2025

Warum ausgerechnet Karpfenteiche? Die unerwartete Zuflucht der Strandlingsgesellschaften

Wenn man an bedrohte Wasserpflanzen denkt, kommen einem Flüsse, Seen oder Moore in den Sinn, aber landwirtschaftlich genutzte Fischteiche? Tatsächlich sind traditionelle Karpfenteiche zu einem letzten Rückzugsort für einige der seltensten Pflanzenarten Deutschlands geworden. Die Geschichte dahinter ist eine faszinierende Verkettung ökologischer Zufälle.

Die ursprüngliche Heimat: Sandbänke wilder Flüsse

Die Strandlingsgesellschaften, zu denen Arten wie der Dreimännige Tännel (Elatine triandra) und der Sechsmännige Tännel (Elatine hexandra) gehören, sind Spezialisten für extreme Bedingungen. Laut des Rote Liste Zentrums gelten beide Arten als gefährdet. Ihre ursprüngliche Heimat waren die Sandbänke mäandernder Flüsse.

Dort herrschten perfekte Bedingungen für diese Pflanzen:

  • Nährstoffarmer Sandboden ohne Konkurrenz durch wuchskräftige Arten
  • Wechsel zwischen Überflutung und Trockenfallen durch schwankende Wasserstände
  • Intensive Sonneneinstrahlung auf den flachen, offenen Sandbänken
  • Mechanische Störung durch Hochwasser, die konkurrenzstärkere Vegetation zurückdrängte

Diese Pflanzen sind perfekt an diese Dynamik angepasst. Sie wachsen schnell, bilden in wenigen Wochen Samen aus und können als Samenbank im Sand jahrzehntelang überdauern, bis die Bedingungen wieder stimmen.

Das Verschwinden der natürlichen Lebensräume

Doch ab dem 19. Jahrhundert verschwanden diese Lebensräume fast vollständig. Die Flussbegradigungen für Schifffahrt und Hochwasserschutz zerstörten die mäandrierenden Flussläufe mit ihren wandernden Sandbänken. Aus dynamischen Wildflüssen wurden regulierte Wasserstraßen.

Die Strandlingsgesellschaften verloren ihre Heimat, bis auf wenige Ausnahmen in Naturschutzgebieten gibt es diese Bedingungen in Deutschland kaum noch.

Der rettende Zufall: Karpfenteiche als Ersatzlebensraum

Und hier kommt die traditionelle Karpfenteichwirtschaft ins Spiel. Ohne es zu wissen, schufen die Teichwirte über Jahrhunderte Bedingungen, die den ursprünglichen Flusshabitaten verblüffend ähnlich waren. So auch auf unserer Projektfläche Teichgut Oerreler Heide:

Nährstoffarmer Sandboden

Viele Teiche wurden auf sandigen, nährstoffarmen Böden angelegt – genau wie die Sandbänke der Flüsse.

Jährliches Ablassen

Im Herbst wurden die Teiche abgelassen, um die Karpfen abzufischen. Der Teichboden lag den Winter über trocken und fror durch. Im Frühjahr wurden die Teiche wieder geflutet. Dieser Rhythmus imitierte perfekt den Wechsel zwischen Hochwasser und Niedrigwasser an den Flüssen.

Offene, besonnungsreiche Flächen

Durch die Bewirtschaftung blieben die Teiche offen, ohne starken Bewuchs durch Schilf oder Bäume.

Extensive Bewirtschaftung

Traditionell wurden die Teiche nicht gedüngt, um das Wasser klar zu halten und die Fischgesundheit zu sichern.

So überlebten die Strandlingsgesellschaften ausgerechnet in einem künstlichen Lebensraum – ein unbeabsichtigtes Naturschutzprojekt.

Die aktuelle Bedrohung: Aufgabe der Teichwirtschaft

Doch heute sind auch die Karpfenteiche bedroht. Die traditionelle Teichwirtschaft lohnt sich wirtschaftlich kaum noch. Verschärfte Naturschutzauflagen, Prädatoren wie Fischotter und Kormorane, und der geringe Marktpreis für Karpfen machen die Bewirtschaftung unrentabel.

Wenn die Bewirtschaftung aufhört, passiert genau das, was am Teichgut Oerreler Heide zu beobachten war:

  • Die Teiche verbuschen – Bäume und Schilf erobern die Flächen
  • Humus sammelt sich an und macht den Boden nährstoffreicher
  • Die Teiche werden nicht mehr abgelassen – der wichtige Wechsel zwischen Nass und Trocken entfällt
  • Konkurrenzkräftigere Pflanzen verdrängen die Strandlingsgesellschaften

Innerhalb weniger Jahre verschwinden die seltenen Arten.

Der Schlammpeitzger: Ein weiterer Profiteur

Neben den Strandlingsgesellschaften profitiert noch eine andere seltene Art von den Karpfenteichen: der Schlammpeitzger (Misgurnus fossilis).

Dieser unscheinbare Fisch hat bemerkenswerte Fähigkeiten:

  • Er kann im Schlamm überwintern, wenn Teiche trockenfallen
  • Er atmet über den Darm und kann so auch in sauerstoffarmen Gewässern überleben
  • Er gräbt sich bei Trockenheit tief in den Schlamm ein

Der Schlammpeitzger war ursprünglich in den Auen großer Flüsse heimisch – in flachen Altwassern und temporären Tümpeln, die regelmäßig trockenfielen. Auch er verlor seine natürlichen Lebensräume durch Flussbegradigungen und fand Zuflucht in den traditionellen Karpfenteichen.

Warum die Renaturierung so wichtig ist

Das Teichgut Oerreler Heide ist eines der letzten großen Vorkommen dieser Arten in Niedersachsen. Ohne aktives Management würden sie hier innerhalb weniger Jahre verschwinden.

Durch die Renaturierung stellen wir die Bedingungen wieder her, die diese Arten brauchen:

  • Freilegung des nährstoffarmen Sandbodens durch Humusabtrag
  • Wiederherstellung des Wasserstandsmanagements durch neue Mönche
  • Jährliches Ablassen der meisten Teiche
  • Offenhaltung durch Entfernung von Bewuchs

So retten wir nicht nur einzelne Pflanzen, sondern bewahren ein komplettes Ökosystem, das eine erstaunliche Geschichte von Anpassung, Zufall und menschlicher Nutzung erzählt.

Und wir zeigen: Manchmal kann Naturschutz bedeuten, eine traditionelle Kulturlandschaft weiterzuführen – denn die Natur hat sich längst an sie angepasst.