State of Nature: Wie gefährdet ist Europas Biodiversität wirklich?
Die Zahlen aus dem State of Nature Report 2020 der Europäischen Umweltagentur sind eindeutig: 81 % der geschützten Lebensräume in Europa befinden sich in einem unzureichenden oder schlechten Zustand. Was auf den ersten Blick wie eine statistische Momentaufnahme wirkt, ist in Wahrheit ein Alarmsignal für die gesamte europäische Biodiversität – und ein dringender Handlungsaufruf für Unternehmen, Politik und Gesellschaft.

Die Biodiversitätskrise in Zahlen
Der "State of Nature Report" der EEA basiert auf der umfassendsten Datenerhebung zur europäischen Biodiversität: Über 15.000 Bewertungen von Arten und Lebensräumen aus den EU-Mitgliedstaaten flossen in die Analyse ein. Die Ergebnisse sind besorgniserregend:
- 81 % der Lebensräume sind in schlechtem oder unzureichendem Erhaltungszustand
- 63 % der Arten befinden sich ebenfalls in keinem guten Zustand
- Nur 15 % der Lebensräume zeigen einen günstigen Erhaltungszustand
- Grasland-Ökosysteme sind mit 87 % in schlechtem Zustand am stärksten betroffen
- Feuchtgebiete folgen mit 84 % ungünstigem Zustand
Diese Zahlen zeigen nicht nur den aktuellen Zustand – sie verdeutlichen auch einen anhaltenden Negativtrend. Seit dem letzten Berichtszeitraum (2013-2018) hat sich die Situation für viele Lebensräume weiter verschlechtert.
Die am stärksten betroffenen Lebensräume
Grasland: Das unterschätzte Ökosystem in der Krise
Grasland-Ökosysteme – darunter Trockenrasen, Magerwiesen und extensive Weiden – gehören zu den artenreichsten Lebensräumen Europas. Der Report zeigt jedoch: 87 % dieser Lebensräume sind in schlechtem Zustand. Die Hauptursachen sind die Intensivierung der Landwirtschaft, die Aufgabe traditioneller Bewirtschaftungsformen und der Einsatz von Düngemitteln.
Besonders dramatisch: Viele dieser Flächen sind in den letzten Jahrzehnten vollständig verschwunden oder wurden in intensiv genutzte Äcker umgewandelt. Damit gehen nicht nur Pflanzenarten verloren, sondern auch Insektenpopulationen, die auf diese Lebensräume angewiesen sind.
Feuchtgebiete: Vom Wasserspeicher zum Sorgenkind
84 % der europäischen Feuchtgebiete sind in einem ungünstigen Zustand – dabei sind Moore, Sümpfe und Feuchtwiesen unverzichtbar für:
- Kohlenstoffspeicherung: Moore speichern etwa doppelt so viel CO₂ wie alle Wälder der Welt zusammen
- Hochwasserschutz: Sie wirken als natürliche Schwämme und Puffer
- Wasserreinigung: Feuchtgebiete filtern Schadstoffe aus dem Wasser
- Biodiversität: Sie beheimaten spezialisierte Arten wie Amphibien, Libellen und seltene Vogelarten
Die Hauptbedrohungen sind Entwässerung für landwirtschaftliche Nutzung, Torfabbau und Verschmutzung durch Nährstoffeinträge. Der Report betont: Die Wiederherstellung von Feuchtgebieten hat das höchste Potenzial für gleichzeitige Biodiversitäts- und Klimaschutzeffekte.

Waldlebensräume: Nicht alle Wälder sind gleich
Während die Waldfläche in Europa insgesamt stabil bleibt oder sogar zunimmt, zeigt der Report ein differenziertes Bild: Natürliche und naturnahe Waldlebensräume – etwa alte Buchenwälder, Auenwälder oder Moorwälder – sind stark gefährdet. Nur 15 % dieser Wald-Lebensraumtypen befinden sich in einem günstigen Zustand.
Das Problem: Industrielle Forst-Monokulturen ersetzen artenreiche Naturwälder. Totholz wird entfernt, alte Bäume gefällt, und spezialisierte Arten verlieren ihre Lebensgrundlage.
Die Treiber des Biodiversitätsverlusts
Der Report identifiziert fünf Hauptursachen für den schlechten Zustand der europäischen Natur:
1. Intensive Landwirtschaft
Die Intensivierung ist der Haupttreiber des Biodiversitätsverlusts in Europa. Monokulturen, schwere Maschinen, Pestizide und Überdüngung führen zu verarmten Agrarlandschaften. Feldhecken, Blühstreifen und Brachflächen verschwinden – und mit ihnen Insekten, Vögel und Wildkräuter.
2. Urbanisierung und Infrastrukturentwicklung
Der fortlaufende Flächenverbrauch für Siedlungen, Straßen und Gewerbegebiete fragmentiert Lebensräume und zerschneidet ökologische Korridore. Arten können sich nicht mehr frei bewegen, Populationen werden isoliert.
3. Forstwirtschaft
Die intensive Holznutzung, insbesondere Kahlschläge und die Entfernung von Totholz, reduziert die Strukturvielfalt in Wäldern drastisch.
4. Veränderung der Wassernutzung
Staudämme, Begradigungen und Entwässerungen haben natürliche Wasserkreisläufe massiv verändert. Flüsse verlieren ihre Dynamik, Auen werden trockengelegt.
5. Klimawandel
Der Klimawandel wirkt als Verstärker bestehender Bedrohungen. Dürren, Extremwetterereignisse und verschobene Vegetationsperioden setzen bereits geschwächten Ökosystemen zusätzlich zu.
Renaturierung: Die Lösung liegt auf der Hand
Der Report macht deutlich: Nur durch aktive Renaturierung können wir den Trend umkehren. Die gute Nachricht: Wo Renaturierungsprojekte umgesetzt wurden, zeigen sich positive Effekte innerhalb weniger Jahre.

Best Practices aus dem Report
- Moorwiedervernässung: Bereits nach 3-5 Jahren kehren spezialisierte Moorarten zurück, die CO₂-Speicherung beginnt sofort
- Fluss-Renaturierung: Entfernung von Barrieren und Rückbau von Begradigungen führen zu einer Erholung von Fischpopulationen um bis zu 40 %
- Extensive Beweidung: Die Wiedereinführung traditioneller Beweidungsformen auf Grasland führt zu einer Verdopplung der Pflanzenarten innerhalb von 10 Jahren
Was Unternehmen jetzt tun können
Der Report unterstreicht: Unternehmen spielen eine Schlüsselrolle. Durch Investitionen in hochwertige Renaturierungsprojekte können sie:
- Gesetzliche Anforderungen erfüllen (EU-Renaturierungsgesetz, CSRD, nationale Kompensationspflichten)
- Messbare Biodiversitätsgewinne erzielen – dokumentiert und verifiziert
- Klimaschutz und Biodiversität kombinieren (z.B. bei Moorprojekten)
- Regionale Ökosysteme stärken – mit direktem Impact vor Ort
Projekte wie das Anlegen von Feldhecken und Streuobstwiesen zeigen bereits heute, wie Renaturierung in der Praxis funktioniert: Sie schaffen Lebensräume, vernetzen Biotope und stärken die Resilienz der Landschaft gegenüber Klimaextremen.
Fazit: Jetzt ist der Zeitpunkt zu handeln
Der State of Nature Report 2020 ist mehr als eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme – er ist ein Weckruf. 81 % der Lebensräume in schlechtem Zustand bedeuten: Wir stehen am Scheideweg.
Die Wissenschaft ist sich einig: Ohne ambitionierte Renaturierung wird sich der Zustand weiter verschlechtern. Mit gezielten Maßnahmen können wir den Trend jedoch umkehren – und zwar noch in dieser Dekade.
Für Unternehmen bedeutet das: Biodiversität ist kein „Nice-to-have" mehr, sondern ein zentraler Teil der Nachhaltigkeitsstrategie. Die Zeit des Abwartens ist vorbei. Die Investition in Renaturierung ist eine Investition in funktionierende Ökosysteme – und damit in unsere eigene Zukunft.



